Die Orgel im Informationszeitalter

Die Orgel im Informationszeitalter technische Entwicklungen und Möglichkeiten

von Gerhard Walcker-Mayer, Orgelbaumeister

(Dieser Vortrag wurde am 8.Mai 1997 anläßlich der 1.Internationalen Woche für Neue Orgelmusik in Trossingen gehalten)

 Die heutige Computertechnologie hat nur in begrenztem Umfang Eingang in den Orgelbau gefunden. Zum Beispiel bei den Setzerkombinationen, wo heute tausende von Speichermöglichkeiten das Registrieren erleichtern helfen sollen. Von einer gründlichen Nutzung der gegebenen technischen Möglichkeiten und der damit zusammenhängenden Medien kann jedoch nicht gesprochen werden.
Allein die Idee, eine vielgespielte Orgel an einen Personal Computer anzubinden, der alle relevanten Daten wie Registereinschaltungen und Tastenbewegungen aufzeichnet und statistisch auswertet, könnte unsere Einstellung zu dem vielgeliebten Instrument gewaltig revidieren. Denn würde es sich nach einem größeren Zeitraum der Datenaufnahme und der begleitenden statistischen Auswertung herausstellen, daß ganz bestimmte Register überhaupt nicht gezogen werden, oder, daß ein bestimmter Teil von Tasten so gut wie nie bewegt werden würde, so würden diese Informationen in jedem Fall neue Gedanken zutage fördern und vielleicht alte Ideen begraben.
 Dies wäre ein Aspekt, bei dem Orgelwissenschaftler, Orgelmusiker und Orgelbauer durch Nutzung heute üblicher, technischer Mittel ihren Horizont erweitern könnten. Allerdings hätte diese Nutzung nur unmittelbare Auswirkungen auf den derzeitigen Orgelbau und die Orgelmusik heute. In meinem Vortrag wende ich mich daher an weitergehende Ideen. Ich denke, daß zum anstehenden Jahrtausendwechsel und der damit verbundenen Globalisierung Rechnung getragen werden sollte, indem man die heute im Keim bereits voll ausgebildete Frucht erkennen kann. Das Zusammenwachsen der Erde als ein Kulturraum . Dies ist ja nur denkbar unter Akzeptanz der sich darin entwickelnden Medien. Und genau hier setzen meine Gedanken an.
 
Die Orgel im INTERNET
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor : An mehreren, global miteinander vernetzten Pfeifenorgeln findet ein Konzert eines Spitzenorganisten statt. Effektvoll könnte man sagen : Der Organist gibt an seiner Heimatorgel ein Konzert, welches über INTERNET [1] nach Tokio, New York, Seoul , Moskau, Berlin übertragen wird, und dort sitzen die Zuhörer nicht vor einem Lautsprecher sondern vor ihrer eigenen Orgel. Die Aufnahme kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt wiederholt werden. Der Organist kann sein Spiel mehrfach abhören und perfektionieren, bevor ein Versand über die Datenleitungen erfolgt. Er kann diese Daten an klanglich unterschiedlichen Orgeln abhören und verfeinern. Letzendlich werden die Zuhörer in aller Welt mit dem Klang einer echten Pfeifenorgel konfrontiert und nicht mit einer CD-Konserve. Denn die Daten, welche um den Globus geschickt werden sollen sind keine Klangdaten, sondern Daten zur Steuerung der Pfeifenorgel. Diese MIDI-Daten [2] können für den Orgelbau der Zukunft von großer Bedeutung werden, wenn für solche Konzertaufnahmen ein Markt entsteht, indem Kirchengemeinden auf der ganzen Welt diese Aufnahmen kaufen, um damit ihre Orgelkonzerte zu bestreiten. In Pop, Rock - und Unterhaltungsmusik jeder Art ist die MIDI-Technik heute nicht mehr wegzudenken. Ja es ist hier sogar so, daß unter dem Einfluß von MIDI-Aufzeichnungen und deren Verarbeitung neue Musikstile geschaffen werden, so wie die heutige TECHNO-Musik .
 MIDI - Aufnahmen
Neben den vielen Möglichkeiten der Weiterverarbeitung dieser MIDI-Daten auf Personal Computern, ist das wichtigste Element welches die MIDI-Aufzeichnung dem Kirchenorganisten bietet jedoch das, daß er sein vertrautes Instrument von mehreren Perspektiven und Ebenen abhören kann. Ein Orgelstück kann abgespielt werden, während sich der Organist im Kirchenraum bewegt, um so Klangfarben und Lautstärke zu überprüfen. Die Registereinstellungen können beliebig oft geändert, die Schnelligkeit des Vortrags dem Nachhall angepaßt werden, der Spieler kann seinen Orgelvortrag inmitten einer vollbesetzten Kirche hören und so insgesamt seine Bewußtheit zu seiner Orgel deutlich vertiefen.
 Von den MIDI-Aufzeichnungen können Notenausdrucke gefertigt und weitere Bearbeitungen der Daten mittels entsprechender Software am Personal Computer vorgenommen werden. Auch das Einscannen [3] von Noten in ein Midisystem ist problemlos möglich. Das anschliessende Abspielen des eingescannten Musikstückes an der Orgel wäre kein Problem. Es besteht außerdem die Möglichkeit während des Abspielens von MIDI-Aufzeichnungen, zum Beispiel auf dem Schwellwerk, aktiv auf dem Hauptwerk zu spielen, und das Ganze wiederum auf einem anderen MIDI-Kanal aufzunehmen. Mit Sicherheit birgt diese Technik ein beachtliches Kreativitätspotential in sich.
 
Wie funktioniert MIDI ?
Bei einer Pfeifenorgel wird das Tonventil mechanisch oder elektromechanisch geöffnet. Im letzteren Fall wird ein Elektromagnet über einen Tastenkontakt mit Gleichspannung versorgt. Bei einer Manualklaviatur von C-g3 sind es 56 Kontakte die parallel zu 56 Tonmagneten angeschlossen sind. Dazwischen liegt meist noch eine Elektronik, um die Tasten vor Funkabbrand zu schützen und außerdem eine Steuerung für die Koppeln. Diese Form der Datenübertragung ist robust, aber umständlich, da für jeden Verbraucher ein eigenes Kabel verlegt werden muß.
Völlig anders funktionieren die heute bekannten digitalen Systeme. Hier werden die Daten seriell, also nicht gleichzeitig, sondern zeitlich aufeinanderfolgend übermittelt. Das einfachste Beispiel einer seriellen Datenübermittlung ist die Telefonleitung.
Beim Spieltisch der Pfeifenorgel wird eine serielle Datenübertragung realisiert, indem die Tastenkontakte an elektronische Schieberegister angeschlossen werden. Mit einem festgelegten Takt werden die Informationen, welche Tasten im Augenblick gedrückt sind, in einem einzigen Kabel an einen Prozessor geführt, der diese Daten weiterverarbeitet. In der Regel wird der Processor diese Daten auf einem Medium wie Diskette oder Festplatte speichern. Wichtige Kriterien bei einer solchen Datenübermittlung ist natürlich eine sehr hohe Datenübertragungsrate.
Um nun ein derartig gespeichertes Musikstück auf der Orgel wiederzugeben ist der umgekehrte Weg notwendig, nämlich den Prozessor zu aktivieren, die gespeicherten Daten von dem Speichermedium zu lesen und die Information über Treiber an die Ton/Registermagnete weiterzuleiten.
 
Technische Voraussetzungen
Die technischen Voraussetzungen, die eine Pfeifenorgel bieten muß, um über einen Processor Daten aufzunehmen und wiederzugeben sind folgende: Jedes Manual, Pedal und die Registerschalter benötigen extra Kontakte, welche mit besonderen, elektronischen Bauelementen, sogenannten Optokoppler verbunden wird. Diese Koppler treiben eine vom Orgelnetz getrennte Elektronik, welche über einen Processor wiederum Schnittstellen zu Personal Computer oder MIDI-Aufnahmegeräten (MIDI-Datenrecorder) ansteuern. Ein einfaches, am Orgelspieltisch eingebautes MIDI-System besteht eigentlich nur aus einem MIDI-Keyboard-Chip [4] mit geringfügiger Steuerelektronik, einem MIDI-Datenrecorder und den eingebauten Kontakten. Soll die Pfeifenorgel MIDI-wiedergabefähig sein, ist ein Processor erforderlich, der die MIDI-Daten dekodiert und über Treiber die Orgeltonmagnete und Registerzugmagnete ansteuert.
 
Elektronik und Orgelbau
Diese und andere Entwicklungen in der Elektrotechnik erfordern ein spezielles Fachwissen, welches der Orgelbauer kaum noch aufbringen kann. Eine Lösung bietet die Zusammenarbeit mit Elektroingenieuren. Aber auch die Spezialisierung des Orgelbauers auf programmierbare Einplatinencomputer bietet Möglichkeiten, aktiv an dieser Technik mitzuarbeiten.
Solche einfachen Computer können für jede beliebige Steuerung eingesetzt und dafür programmiert werden. Die Programmierbarkeit bietet eine große Anpassungsfähigkeit an die Wünsche der Organisten.
 
Einplatinencomputer und Ideen rund um die Orgel
Besonders vorteilhaft scheint die Programmierbarkeit bei Midisystemen im Pfeifenorgelbau zu sein. Hier handelt es sich ja um Instrumente die eigentlich immer unterschiedlich in Disposition, Tonumfang, Anzahl und Art der Pistons und sonstigen Taster sind. Diese Informationen können individuell bei jeder Orgel programmiert werden. Wir haben hier in der Musikhochschule Trossingen 2 solcher programmierter Microcontroller eingebaut. Seit etwa 3 Jahren werden diese Einplatinencomputer von uns entwickelt und es sind bisher 9 Stück in größere Orgeln eingebaut worden.
 Der selbe Microcontroller, welcher durch ein bestimmtes Programm zur Sequenzersteuerung des Setzers veranlaßt wird, kann bei entsprechender Programmierung als Midiprocessor dienen oder zur Steuerung der Schrittmotoren von Schwelljalousien Verwendung finden. Er kann als regelbares Tremulantensteuerteil programmiert werden oder mit einem Drucksensor ausgestattet einen Motor in Gang setzen, wenn in einem Windladenbalg der Druck entsprechend gefallen ist. Es ist möglich, mit diesem Bauteil einen Zufallsgenerator zu verwirklichen, der aus hunderten vorprogrammierten Flöten- oder Zungenplenen zufällige Muster in ebenfalls zufälligen Rhythmen wiedergibt. Als Überwachungsorgan kann der Controller in weniger als einer Sekunde alle angeschlossenen Magnete der Orgel auf Funktion überprüfen indem er die Widerstandswerte der Leitungen mißt. Er kann die 8000 Kombinationen des Setzerspeichers innerhalb einer Mikrosekunde verifizieren und reklamieren, wenn der Speicherinhalt verändert wurde. Benützt man extrem schnelle Schrittmotoren zur Steuerung von Tonventilen anstatt der heute bekannten Tonventilmagnete, so kann eine dynamische Steuerung des Einzeltons realisiert werden. Der Processor steuert die Motoren nach den Vorgaben des Organisten oder nach der Intonation des Orgelbauers. Eine Vielzahl an zusätzlichen Einzelcharakteristiken eines einzigen Registers können so manipuliert werden, indem ein großer, unterschiedlicher Zeitraum des Ventilöffnens- und Schließens genutzt wird. Aber auch die Entwicklung von synchronisierten Schleifzug - Schrittmotoren sollte aufgenommen werden, da sich hier nicht nur extreme Schleifenreisen verwirklichen lassen, sondern auch das auf tausendstel Millimeter genaue Positionieren der Schleifen über den Pfeifenlochbohrungen . Solche Schrittmotoren werden heute eingesetzt bei CNC-Maschinen und Plottern, wo es auf sehr hohe Genauigkeit ankommt. Der Hauptaufwand ist das Programmieren dieser Geräte über Einchip- oder Einplatinencomputer. Diese Einplatinencomputer sind der große Renner in der Elektrotechnik, da diese Baugruppen den Entwickler unabhängig von Großfirmen und von teueren Innovationen machen.
 
Und noch mehr Computer ...
Bereits im Jahr 1973 baute die Firma Walcker einen Relaiscomputer, welcher aus einem Pfeifenregister, das aus der dreifachen Pfeifenzahl bestand, die zugehörigen Pfeifen aussuchte, damit die gespielten Akkorde reingestimmt klangen. Dieses nach den Ideen des Norwegers Eivind Groven [5] gebaute Modell wäre heute mit diesen hier vorgestellten Einplatinencomputern und der geschilderten Miditechnik wesentlich einfacher zu realisieren. Insbesondere ist mit einem solchen System die Möglichkeit geschaffen, durch eine geringfügige Erhöhung der Pfeifenanzahl verschiedene Stimmungssysteme in einer Orgel zu verwirklichen.
 
Ausblick
Die heutige Elektrotechnik bietet vielfältige Möglichkeiten Eingang in den Orgelbau zu finden. Viele dieser Möglichkeiten bleiben ungenutzt, da Organist und Orgelbauer diese Möglichkeiten nicht kennen, der Technik mißtrauen oder indem man den bequemen Weg zum Orgelteillieferanten geht. Dennoch scheint mir der musikalische Nutzen der hier vorgestellten Ideen überdenkenswert zu sein. Der Orgelbauer hat schon immer die Mittel seiner Zeit ausgeschöpft. Dazu muß er, die ihn umgebenden Techniken mindestens verstehen und ihre Bedeutung richtig einzuordnen wissen. Es bleibt abzuwarten ob, und mit welcher Intensität der Computer Einzug in den Orgelbau hält, und ob dies ein Befruchten der musikalischen Möglichkeiten wird, wie ich es hier zu schildern versucht habe.

 
Gerhard Walcker-Mayer



Historischer Grundstein für solch ein spektakuläres INTERNET-Konzert wurde bereits 1992 von Manuel Tesloff anläßlich der Dokumenta 9 in Kassel gelegt. Es konnten dort 6 Musiker gleichzeitig über die Telefonleitung einen in Kassel installierten Musik-Computer bedienen. Das Feedback für die Musiker erfolgte über den Fernsehsender 3-Sat. Auch in der Pop-Musik wird globales Musizieren bereits praktiziert. Ich zitiere William Henshall, der seine professionelle Popgruppe „Cybercrew“ im INTERNET zusammengesucht hat :“...ich schicke ein paar Gitarrengriffe nach Hawai, dort sitzt ein excellenter Bassist, der seinen Part dazu gibt. In Seattle spielt ein Musiker die Violine ein, und das Schlagzeug kommt von einem Orchestermusiker aus Sydney “ (Ende Zitat).

MIDI = Musical Instrument Digital Interface, bezeichnet eine international genormte Schnittstelle, auf der ebenfalls genormte Datensignale passieren.

Das Programm Capella Scan , zu beziehen bei WHC Musiksoftware Söhrewald, ist laut Praxistest einer PC-Zeitschrift sehr gut geeignet Noten einzulesen.

Als „Chip nach Maß“ empfiehlt sich der DD/E510 mit schneller Tastaturabfrage, bis maximal 128 Tasten zu beziehen bei Doepfer-Musikelektronik, Gräfelfing bei München

Temperierte und reine Stimmung, Eivind Groven, Herausgeber norwegischer Kulturfond 1973,

ISBN 827066 0272