5300 Wien Musikfreunde

Die neue Rieger-Orgel im Wiener Musikverein mit 85 Register wurde gestern eingeweiht.
Dort war vorher eine Walcker-Orgel aus 1967/69, bei der ich als Lehrling mitgewirkt habe und die auch dank der Vielzahl an unterbliebenen Orgelkonzerten keine Chance hatte je für Aufmerksamkeit zu sorgen. Der Klang von OPus 5300 war alles andere als homogen und ausgeglichen, aber eben im Stile der Zeit. Bei meinen letzten Besuchen bei den Musikfreunden im Jahre 1993 war mir klar geworden, dass die vergangenen Zeiten eine Fehlentwicklung darstellten, die wohl auch wegen der Masse an Orgelbauten und des aufkommenden Desinteresses in der Öffentlichkeit am Orgelklang, kaum eine Erneuerung erfahren dürfte.
Im Haus der Musikfreunde haben sich Orgeln nie lange gehalten: die erste von Friedrich Ladegast 1872 eingebaut, mit 52 Registern auf drei Manualen sollte nach 35 Jahren gegen eine Rieger/Jägerndorf Orgel im Jahre 1907 ausgetauscht werden. Dieses Instrument wiederum mit rund 71 Register und Tuba mirabilis 8, Seaphongamba 8, Seraphonflöte 8 und 4 im IV.Man Solo wurde 1948 von Molzer erheblich umgebaut und auf 80 Register erweitert. Daraufhin folgte 20 Jahre später das Instrument aus E.F.Walcker & Cie, Ludwigsburg und Werner Walcker-Mayer Orgelbau, Guntramsdorf mit exakt 100 Registern, wobei das Hohlpfeifen-, Sifflöten- und Terz-Quintgebimmel in Fusslagen ab 2-Fuss kein Ende nehmen sollte, was einst Eggebrecht (um 1968/69) zur Bemerkung veranlasste: "ihre Orgeln klingen nicht schön!".
Doch, was alle Welt schon längst wusste, liess weder Orgelbauer und noch weniger Organisten und Sachverständigen davon abhalten, weiterhin im Aliquotengeschrei ihr Heil zu suchen, während der gesunde Orgelbass sträflich vernachlässigt wurde.
Ausgenommen bleiben viele Orgeln, die in den 50er Jahren gebaut wurden, die eine völlig eigenständige Klangcharaktersitik aufweisen und auch viele interessante Persönlichkeiten reizte am Orgelklang der Zeit mitzuarbeiten. Von Rössler bis Schulze-Kühn seien nur drei Namen genannt. Hier waren noch unverfälschte Intonateure der Spätromantik am Werk, die erst mit der Zeit ihre Verformung durch "silberhellen" Sachverstand erfahren sollten.
Wie die heutige Zeit später einmal bewertet wird, wir diskutieren das Thema immer wieder neu und aus unterschiedlichen Beleuchtungswinkeln, das ist ein großes Geheimnis. Wenn ich an meine Lehrjahre denke von 1967 bis 1970, da war jedem einzelnen Orgelbauer ganz klar, dass wir die besten Orgeln aller Zeiten herstellen, aber ohne jegliches historisches Bewußtsein. Das gab es in diesen handwerklich-industriellen Betrieben überhaupt nicht. Und Belehrungen aus der Avantgarde nahm der Orgelbau nie ernst.
Heute hat sich das zumindest in der Einsicht etwas geändert.
Jeder Orgelbauer meint nämlich, er würde wie die namenlosen Helden, die von Ausgabe zu Ausgabe der Ars Organi ausgegraben werden, weil man auch hier das Bedürfnis zu nähren glaubt, immer etwas Neues auf der Pfanne servieren zu müssen, als historisches Subjekt irgendwie in Erinnerung der Menscheit zu verbleiben.
Das jedoch ist ein gewaltiger Irrtum, weil wir nicht mehr mit Geschichte rechnen dürfen.
Die Erinnerung wird uns zwar dank digitaler Medien laufend um die Ohren geschlagen werden; Historie aber in Form kultureller Deutung, Sinngebung, Vergewisserung, all das ist vorüber. Solche unbedeutenden Zeitalter wie das unsrige wird, je länger die Geschichte der Menschheit noch andauern wird, geringer und geringer bewertet werden.
Hoffen wir, dass wir und unsere Nachfahren vom Koloss der Technik, den wir anstelle der Kultur aufgerichtet haben, wenigstens nicht erschlagen werden.
(gwm)