Die Orgelgestalt im 19.JH (2.Teil)

2.Teil (ergänzt 26.05.07)

Probleme der Kategorisierung

Es  ist das Verdienst von Hermann Fischer sich dieses Problems in mehreren Büchern bereits angenommen zu haben. ("Orgeln in Schwaben", "Orgeln in Oberfranken" und "Georg Friedrich Steinmeyer -1819-1901- und sein Werk") Wir finden bei ihm ein durchdachtes Schema mit dem man ausgehend vom einfachen Turm und zwei Seitenfelder bis zum 9feldrigen Orgelprospekt alles klassifizieren könnte was an Orgelentwürfen nur anfällt.

Diese Kategorien (wird in späteren Artikel genauer   erläutert, es sei jetzt nur gesagt, dass man sehr einfach vom klassischen "Drei-Turmprospekt" über den "Drei-Rundturm- Prospekt" , Schematas, die als Kern in jedem komplexen Orgelentwurf der älteren Zeit irgendwie vorhanden sind, weiter in höhere Komplexität schreiten kann, indem man eben die dazukommende Seitenfelder und Harfenfelder und weitere Rundtürme wie bei der Katalogisierung von Schachvarianten in immer tiefere und komplexere Strukturen einbindet.) Wir sehen an dem Beispiel, dass der Orgelprospekt mit der Klassifizierung 7.1 im Kern genau ein "Drei-Rundturm-Prospekt ist, wie 5.5,  mit zwei Harfenfelder(gelb) dazu und zwei Seitenfelder neben dem mittleren Rundturm, was in der Datenbanksprache genau zwei Byte entspricht - und nicht ein komplexes neues Gebilde, was bei Fischer zu einer Unzahl an Unter-Varianten führt.

Ich denke, wenn man die wenigen Ausnahmen, die ja auch immer vorliegen, extra berücksichtigt, sie nicht mit weitverzweigten Untervarianten einbindet, sondern sie als Ausnahme eben führt, dass man dann ein sehr straffes und klares System bekommt, um Orgelgestaltungen übersichtlich ins Computerarchiv zu integrieren.

Es wäre vollkommen falsch die Orgelgestalt des 19.Jahrhunderts nach "Stil"-Gesichtspunkten archivieren zu wollen. Zwischen "Byzantinisch" und "Romanisch" kann man kaum einen Unterschied feststellen, außer dem vielleicht, dass der Orgelbauer ein "höheres Maß an Dekoration" beim "Byzantinisch" andeuten wollte. Gerade aber "Dekoration" ist bei einer Kategorisierung von Orgelentwürfen unbrauchbar.

Es treten ja dann auch nach 1850 vermehrt Stilvermengungen zwischen den Neu-Stilen auf. So werden  gotische Fialen auf typisch romanische Rundbögen draufgesetzt. Oder klassizistische Strenge wird mit "gotischen Krabben" aufgelockert.

Da man eigentlich nur die runden und rechteckigen Türme oder Felder zwischen den Türmen erfassen braucht, um eindeutig die Struktur einer Orgelgestalt definieren zu können, ist Fischers Schema für die Computerkategorisierung bestens geeignet.

Das Ganze dient mir dazu, in unserer Walcker-Datenbank zu versuchen, die ersten zweitausend Entwürfe mit einem eindeutigen thumbnail zu versehen, der über diese Struktur eine definitve Aussage macht, und uns die Möglichkeit geben soll, zum Beispiel alle Entwürfe nach "runder Mittelturm, zwei runde Seitenfelder" zu suchen und zu sortieren. Auch bei den Freipfeifenprospekten und bei ganz ausgefallenen Gestaltungen kann man eine derartige Kategorisierung vornehmen, nur muss dieses System stark vereinfacht sein.

Nach Bildern kann man momentan noch keine Datenbank sortieren. Ich denke aber, dass dies in zwei drei Jahren möglich sein wird. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte also mindestens bei uns eine einheitliche Bilderform gefunden werden. Das heißt, einheitliches Format, gleiche Pixelgrößen, gleiche Farbdichte etc. müssen bei allen Bildern vorliegen, bevor sie in die Datenbank wandern.

Wer diesen Gedanken verstanden hat, der wird auch verstehen, worauf wir hier hinauswollen.

Einesteils soll dieses System die Lücken, die vorhanden sind, durch Annäherung an vorhandene Gestaltungen schließen, oder zumindest Andeutungen möglich sein, welche Varianten an Gestaltungen in Frage kommen, wenn ein Orgelentwurf nicht bekannt ist. Andererseits kann durch eine solche Aufbereitung der Daten, eine stilistische Entwicklung in der Gestaltung der Orgelentwürfe historisch ermittelt werden. Meist haben wir ja eine Disposition der Orgel und keine Gestaltung, und oft haben wir eine Orgelanlage dazu. Und ich meine aus diesen bekannten Daten und den Daten der Nachbarorgeln kann es dann irgendwann einfach sein, die statistisch sichere Variante an Möglichkeiten zu ermitteln.

Ein weiterer wichtiger Umstand kommt uns zur Hilfe bei den Orgelentwürfen.

Denn in der 2. Hälfte des 19.Jahrhundert haben viele Kirchenbehörden vorgeschrieben, welche Neu-Stile für Ihre Kirche in Frage kommen konnten. So können wir eigentlich immer davon ausgehen, dass bei einer Neu-romanischen Kirche auch ein Neu-romanisches Orgelgehäuse dazu gebaut wurde.

Nehmen wir Steinmeyers Orgelgestaltungen, die anfangs bei ihm bis zu einem gewissen Grad vom Lehrherrn Eberhard Friedrich Walcker herstammen können, und die von Fischer vorzüglich 1978 dokumentiert wurden. Aber auch andere Orgelgestaltungen im deutschsprachigen Raum, so z.B. Carl-Theodor Kuhn, dessen Standartentwürfe in einem interessanten Band vorliegen, und dazu noch das Schaffen von Wilhelm Sauer, das durch Falkenberg dokumentiert wurde, so denke ich, kann man doch eine umfassende Schilderung über die Orgelprospektgestaltung des 19.Jahrhunderts erstellen. Über die Möglichkeiten von Analogien und den Methoden der Statistiken, so meine ich, kann man sicher einen erheblichen Teil der nur teilweise vorliegenden Informationen und fehlende Archivmaterialien ausgleichen.

Denn wie sollte denn eine "neue" romantische Orgel letztendlich aussehen, welche äußere Gestalt sollte solch ein Instrument haben, wenn nicht ihre ursprüngliche Gestaltungsprinzipien genauer untersucht werden?

Obwohl, wie ich das oben zu erläutern versucht habe, der "Stil" bei einer Katalogisierung von Orgelgestaltungen recht unbedeutend ist, so ist das Wissen um die Entwicklung zur "Einbahnstraße des Historismus" und ihren Vorläufern als geschichtliches Phänomen genauso wichtig, wie das "Herkommen" der Orgelentwürfe von Eberhard Friedrich Walcker und seinen Schülern und Nachfolgern.

Aus diesen Grund versuche ich hier eine Kurzdarstellung dieser Zeiten.

Stilentwicklung im 19.Jahrhundert

1. Zopfstil - In Süddeutschland entstand etwa ab 1775 in Abkehr vom Spätbarock(oder Rokoko) noch vor der Franz. Revolution eine besondere Form des Klassizimus (Rokokoklassizismus) , entspricht dem "Late Georgian" in England und dem "Louis Seize" in Frankreich. Dieser Stil war mehr vom Bürgertum geprägt als vom Adel. Zeichnet sich aus durch klassische Struktur der Orgelgehäuse, steife Zopfornamente, Vasen, Vorhangdraperien, Bänder, tempelartiges Design. (J.N.Holzhey "Rot, "Neresheim")

2. Empire - Mit Napoleon entstand eine Stilrichtung innerhalb des Klassizismus im 18.JH in Frankreich, die fest mit seinem Personenkult verwoben war. Dieser Stil war geprägt von Geradlinigkeit, Strenge, Feierlichkeit und sollte damit Größe und Macht des Kaisers veranschaulichen. Von 1804 bis 1815 verbreitete sich der Empire-Stil in ganz Europa, seine Vollendung fand er in Petersburg.

3. In der Walcker-Orgel der Frankfurter Paulskirche fand der Klassiszimus in Deutschland seine erste wichtigste Verkörperung. Während der Klassiszimus noch ein ideologisches Ziel hatte, im Angesicht der Staatengründung in Nordamerika und Revolution in Frankreich, die Wiederbelebung der Antike, Humanismus und als kulturelles Ziel, die Verspieltheit des Rokoko und des Spätbarock zugunsten "klassischer Formstrenge" zu überwinden, fand im Historismus kein vergleichbarer geistiger Unterbau statt; in der Spätfolge wurde verwendet was gefiel und auch oft wahllos kombiniert, was zu einem Eklektiszimus  (Stilmischmasch ab ca.1850)  führte.  

Der Übergang allerdings von Klassizismus zu Historismus ist weder zeitlich noch stiltypisch kaum auszumachen. Oft sind Gotik, Klassizismus und Romanik mit Gotik und Klassizismus vermischt. Da die einfache Neuromanik oft kühl und farblos daher kommt, kam man auf den Gedanken mit dekorativen Elementen nachzuhelfen, was zum besagten "Byzantinismus" oder "Neu-Renaissance-Stil" führte (man sehe sich unser momentanes Eingangsbild auf  www.walckerorgel.de  an). Und schließlich folgte auf all diese Stilvielfalt noch die Erneuerung des "Zopf-Stiles" der als "Neuklassizismus" in die Stilgeschichte eingeht. Viele wuchtige und schöne Orgelgestaltungen in Südamerika wurden neoklassizistisch gefertigt.

Man sollte bei der Betrachtung dieser Stilentwicklungen aber auch beachten, dass es unterschiedliche Strömungen im Historismus gab:

·        der romantische Historismus, der sich langsam vom Klassizismus ablöst, war in Deutschland durch Goethes Beschreibung des visionären Eindrucks vom Straßburger Münster geprägt, bevorzugte also Neogotik und auch Neoromanik

·        der strenge Historismus, der subjektivistische Elemente strikt ablehnt und versucht einen lehrbaren und objektiv richtigen Stil zu finden, was wir im 3.Teil ebenfalls tun, indem wir auf die "echten" Stile und ihren Prinzipien zurückdeuten.

·        der Späthistorismus der seine Orientierung an der Renaissance mit der Zeit zugunsten des Neobarock ablöste und im Orgelbau dann vereint mit ideologischer Begründung nach dem I.WK zur Orgelbewegung geführt hat.

 

Jeder der mit diesen Orgeln in Berührung kommt spürt, dass hier mehr wirksam war, als irgendeine plumpe Nachäffung von zurückliegenden Stilepochen. Niemals wurde in der Zeit ab 1830 von Neo-Gotik gesprochen. Sondern man vollendete Gotik oder schuf Gotik neu. Ein Grund warum man im Orgelbau nie Orgelgestaltungen aus der Gotik, wie Straßburg, Nürnberg oder Kiedrich herangezogen hat, sondern sich an den Domen und Häusern und ihren Elementen orientierte und bei Orgeln völlig neu ordnete. Gerade bei der Gotik kommt ein wichtiges neues Element hinzu, nämlich der einzige Stil des Abendlandes der unabhängig von den antiken Vorgaben geschaffen wurde, war ursprünglich ein aus Stein gehauener, zum Himmel gerichteter Appell. Wir können diese Gotik gar mit einem "Aufbäumen der Religionen" gegen den von Hegel und Nietzsche verkündeten "Tod Gottes" assoziieren.

Wir wissen auch von der griechischen Baukunst, denn ursprünglich waren die dorischen Tempelsäulen aus Holz gebaut; mit dem Stein begann man an der "Ewigkeit" zu werken. Die Abkehr in der Gotik also, weg von Stein, das ist das neue Element der "zeitlichen Begrenzung". "Keine Zeit" haben, ist etwas, das dem "gotischen Menschen" als Gotteslästerung daher gekommen wäre. Die "nach Ewigkeit lechzende Gotik" nun neu in Holz zu bauen, was ab 1920 bei allen damaligen Gegen-Bewegungen zum 19. Jahrhundert als "Schreiner-Gotik" verlacht wurde, hatte eine neue zeitliche Qualität erfahren, und nicht nur damit war man sich einig, völlig modern und im Fortschritt mit Wissenschaft und Industrie zu sein. Hinzu kam die nationale Ausdeutung besonders in Deutschland, wo schlichtweg Gotik als "deutscher Stil" bezeichnet wurde.

Die gotischen Orgelprospekte sind in der Regel flächige Fassaden, die mit architektonischen Elementen, wie Fialen, Pilaster, Säulen, Pfeiler und Leisten gestaltet sind, und die gerade durch ihre flächige Proportion (Ulm) eine neue Gestaltungs- Dimension ermöglicht. Immer aber waren diese Gestaltungen Fassaden ohne ein geschlossenes Gehäuse, das Dach hat immer gefehlt.

Für den Orgelbau wichtig sind folgende Neu-Stile wichtig gewesenNeuromanik, im Wiesbadener Programm (ca 1890) und Eisenacher Regulativ (1861) verbindlich für für evangelische Kirchenbauten festgelegt !  (Wiesbaden Ringkirche, Lutherkirche Hannover, Christuskirche Karlsruhe, Lutherkirche Bonn, Lutherkirche Karlsruhe, Lutherkirche Wiesbaden, Christuskirche Mannheim, Lutherkirche Worms, Lutherkirche Offenbach/Main)

Neugotik, in Deutschland ausgelöst von Goethe, was in der Fertigstellung der großen Dome (und auch Rathäuser) in Deutschland zur Reichsgründung 1872 gipfelte. Hier war ja auch das "zu Endeführen eines gewaltigen Stiles" eine grundlegende Motivation. Ab etwa 1840 wurde die Gotik zum Sinnbild einer Architektur der Bürgerfreiheit empfunden.

Neorenaissance, war in Deutschland vor allem der bevorzugte Stil für Theater, Opernhäuser und Museen. (Renaissance als Blütezeit der Künste)

Neobarock, wurde in Deutschland auch wilhelminischer Stil genannt, der im Berliner Dom (1894-1905) eine höchste Entsprechung finden sollte. Man entdeckt ihn auch  in der Pariser Oper, Brüssel Justizpalast, Berlin Reichstag, Wien Neue Hofburg. Gefeiert wird hier der Absolutismus als Höhepunkt weltlich-monarchischer Macht, weswegen eben staatliche Bauten unter den letzten Königen Europas in diesem Stil errichtet wurden. 

Die Orgelprospekte des Historismus treten ab 1850 in folgenden Formen auf:Spitzbogen - div. Varianten der Neugotik, und auch Vermischung mit der Romanik

Rundbogen-Prospekte in den Formen der Romanik, welche unmerklich in Formen der Neu-Renaissance, Neu-Klassizismus und sogenannten Byzantinismus übergehen.

Ab etwa 1880 gehen Rundbogen-Prospekte in Neu-Barock und Neu-Rokoko über. Stilechter Nachbau von Barockprospekten findet ab 1900 statt. (siehe Beispiel rechts unten, das Walcker für die Ausstellung in Wien 1890 und für eine Ausstellung in Luxembourg 1894 erbaute)Diese genannten 3 Arten von Orgelprospekten bleiben bis 1914 wesentlich bei Orgelneubauten.

Wir sind hier noch auf völligem Neuland, was die Gestaltung von Freiprospekte angeht, die Oscar Walcker in England vorgefunden hat und in Deutschland einführte. Sauer soll 1880 einen solchen Freipfeifenprospekt gebaut haben. Steinmeyer hat  einen solchen 1890 gebaut. Mit der Jahrhundertwende tritt der "Jugenstil- Prospek t-Entwurf" auf den Plan, der von Walcker in München realisiert wurde. Bis wir dann in den Jahren 1925 bis 1940 eine totale Versachlichung und empfindliche Erkältung der Orgelentwürfe erfahren. Und ich glaube, damit können wir doch sehr deutlich ins Gesicht der Zeit blicken, die uns wider gibt, was sie selbst doch darstellen wollte. Das eigentlich ist es schon wert solche historische "Gestaltungsstudien" anzufertigen.

Unsere Aufgabe im nächsten Kapitel ist, neben der Darstellung der "Elemente" die "Prinzipien" dieser Gestaltungen durchzuarbeiten und vorzustellen, bevor wir uns an die Arbeit machen, unser bestehendes Archivmaterial in Form von System und Schema hier deutlicher vorzustellen.

Das letzte und bedeutende Ziel soll sein, das Jahrhundert der Orgel-Romantik in Deutschland einfach besser verstehen zu können.

(gwm)